Blog Beitrag

Türkische Graue Wölfe und Männlichkeit: Eine vernachlässigte Perspektive

Von Emre Arslan

Die türkischen Ultranationalist*innen sind in der Türkei, aber insbesondere in Deutschland meistens unter dem Namen „Graue Wölfe“ bekannt und bezeichnen sich auch selbst so. Die offizielle Benennung der türkischen Ultranationalist*innen ist Ülkücü, was wörtlich „Idealist“ bzw. „Idealismus“ heißt. Organisatorisch ähneln die „Grauen Wölfe“ einer Form von Faschismus, die auf Führerkult basiert und einer hierarchisch organisierten militärähnlichen Parteistruktur gleicht.

Seit 2018 befindet sich die Partei der „Grauen Wölfe“, die Nationalistische Bewegungspartei (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP), mit der islamistisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) in einer politischen Allianz. Während die AKP unter der Führung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Land regiert, bestimmt die MHP zu großen Teilen die bürokratischen Kader und das ideologische Klima in der Türkei. Je mehr die Grauen Wölfe in Bürokratie und Ideologie des Landes an Gewicht gewinnen, desto stärker wird die männliche Dominanz innerhalb der herrschenden Klasse in der Türkei. Meines Erachtens ist darum der Faktor „Männlichkeit“ in der Analyse der MHP-Politik unerlässlich, auch wenn dieser Aspekt der Ideologie faschistischer beziehungsweise ultranationalistischer Bewegungen eher selten als Thema im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs behandelt wird. Meistens wird das Thema „Männlichkeit“ als eine Sekundareigenschaft solcher Ideologien eingestuft. Ein wichtiger Grund für die Vernachlässigung dieses Aspekts liegt in der Tatsache, dass diese Bewegungen selbst die ideologische Verherrlichung der Männlichkeit und Abwertung alles Weiblichen nicht wahrnehmbar als einen ihrer Schwerpunkte im politischen Alltag definieren.

Insbesondere ultranationalistische Ideologien sind jedoch sehr aktiv an der Ausformung einer Männlichkeit beteiligt, die sich vom Wesen her als körperlich und moralisch überlegen begreift. Dies vollzieht sich jedoch selten durch eine bewusste Bezugnahme auf das Thema, sondern geschieht in Form von Diskursen, die die Unverzichtbarkeit von vermeintlich männlichen Eigenschaften wie Mut, Kampfbereitschaft oder Ehre für die Existenz der Nation betonen. Auch werden vergeschlechtlichte Formen von Moral oder Haltung in ultranationalistischen Reden oder Texten hervorgehoben und zudem auf der Verhaltensebene durch Rituale und Umgangsregeln habitualisiert (z. B. durch rasches Aufstehen, wenn eine Person mit höherem Rang in die Räumlichkeiten des Vereins kommt). Ülkücüs lernen als Bestandteil einer ultranationalistischen Erziehung, dass „Mannhaftigkeit“ der wichtigste Kompass der Moral und Ehre ein Zeichen „adliger Männlichkeit“ ist.

Der Soziologe Pierre Bourdieu vergleicht in seiner Analyse über die männliche Herrschaft das Konzept der Männlichkeitsvorstellungen mit dem Adel.1 Dieser zeichne sich als Klasse am meisten durch hohes symbolisches Kapital aus, dessen Hauptfunktion die Verwandlung des Habens ins Sein sei. Was edel ist, kann nicht durch harte Arbeit, nackte Gewalt oder rücksichtslose Ausbeutung anderer gewonnen werden. Solche weltlichen Dinge sind gerade das Gegenteil einer edlen Haltung. Aristokratische Eigenschaften werden durch die Geburt weitergegeben. Nicht die banale materielle Vererbung von Ressourcen, sondern die ideelle Vererbung eines reinen Blutes bestimmt die vorgestellte Übertragung der adligen Eigenschaften in der Familie. Der Ehrbegriff ist dabei das zentrale Element der Bildung des adligen symbolischen Kapitals. Ehre als Begriff distinguiert seinen Träger von anderen ohne die Hervorhebung der materiellen Überlegenheit. Gerade diese Verschleierung der materiellen Verhältnisse gibt uns einen Rückschluss auf die Funktion des Begriffs. Das durch den Ehrbegriff gewonnene symbolische Kapital muss durch ein negatives Kapital der Anderen (meistens in Form eines Stigmas) ausgeglichen werden. In der männlichen Herrschaft kommt es demnach zu einer ehrenvollen Erhöhung der Männlichkeit und einer Stigmatisierung von Weiblichkeit. In fast allen Sprachen befinden sich Spuren der männlichen Herrschaft. Häufig werden Frauen in der Sprache unsichtbar, wie die Verwendung des generischen Maskulinums im Deutschen zeigt. Ähnlich hierzu bedeutet „mannhaft“ (erkekçe) auf Türkisch mutig, ehrlich und aufrichtig. Viele Menschen verwenden solche Wörter, ohne einen ideologischen Sexismus zu vertreten und tragen unbewusst dennoch zur Reproduktion der männlichen Herrschaft bei. Bei den Ultranationalisten bekommt dieses Vokabular jedoch nicht nur die Rolle der unbewussten Aufrechterhaltung der Geschlechterordnung. Sexistische Sprache bildet eine Grundlage der politischen Haltung der Bewegung und wird demnach sehr häufig bewusst verwendet.

Doch geschieht dies nicht in Form durchdachter Überlegungen oder politischer Programme. Stattdessen muss die eigene Männlichkeit – ähnlich wie die eigene ständische Herkunft im Feudalismus – mythisch überhöht werden. Dies zeigt sich etwa im „Oguz-Khan-Gebet“ (Oğuz Kaan Duası) auf einer Internetseite, die sich „Wahre Türken“ (Öztürkler) nennt. Obwohl dieser Gebetstext eine Erfindung der „Wahren Türken“ ist, wird versucht, dem Text einen heiligen Charakter zu geben: „Das Gebet des Türkentums von Oguz Khan, das Sie gerade lesen, ist bis heute ohne einen Verlust an seinem geistigen Werte überliefert.“2 Das Gebet beginnt mit einer Bitte an Gott, die die Bewahrung der türksichen Moral (Töre) beinhaltet, um dann mit einer patriarchalischen und lebensfeindlichen Vorstellung von Töre fortzufahren: „Lass die Türken mit einem Männlichkeitsideal leben! Lass die Türken die Töre wie ihr Leben bewahren! Gib den Türken weder Spaß noch Ruhe! Ganz im Gegenteil: Lass die Türken sich an Mühe gewöhnen! Mit Mühe sollen ihre Herzen und Körper wie Eisen und Stahl sein! Gib den Türken einen unveränderten Charakter! … Lass die Türken lebenslang arbeiten! Erschaffe den Türken als nüchternen und ernsthaften Mann. Er soll nicht mit Gefühlen rebellieren. Er soll immer kaltblütig sein! … Er soll nie die Rache vergessen!“

Obwohl die Männlichkeitsvorstellungen der Grauen Wölfe also auf einer patriarchalen Geschlechterordnung aufbauen, gehen sie über diese hinaus, indem sie männliche Vorherrschaft mythologisieren und als vermeintlich „türkisch“ essentialisieren. Doch diese Vorstellung sollte in der Debatte um türkischen Ultranationalismus nicht schlicht übernommen werden. Stattdessen ist eine möglichst genaue politisch-ideologische Identifizierung und Einordnung der Gruppierungen und öffentlichen Personen aus der Türkei im Diskurs notwendig.

Vielen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft kommt eine Gleichsetzung der konservativen und ultranationalistischen Werte mit der gesamten türkischen Kultur jedoch gerade gelegen, da sich eine differenzierte Betrachtung aufwändiger gestalten und nicht zu einfachen Antworten führen würde. Zudem wertet diese unzulässige Vereinheitlichung und Gegenüberstellung eine vermeintlich „deutsche Kultur“ gegenüber einer vermeintlich „türkischen Kultur“ auf und verortet diese als rückständig, unaufgeklärt und alles andere als emanzipiert in Bezug auf die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Sowohl in der medialen Darstellung als auch im Bildungsbereich findet man zahlreiche Beispiele undifferenzierter rassistischer Pauschalisierungen. Die Rede von türkischen Jungs als „Paschas“ bildet eines der Argumente in der Begründung von Lehrkräften für die Verweigerung einer Gymnasialempfehlung für diese Gruppe von Kindern. Die folgende Interviewpassage mit einer Grundschulrektorin zum Thema Schulversagen steht beispielhaft für dieses Phänomen: „Ich glaube tatsächlich, da das Erziehungsverhalten gerade türkischer Familien bezogen auf ihre Söhne ein ganz spezielles ist. Und ich will da wirklich nur sagen (…), dass sie also einfach ihren Söhnen unglaublich viel gestatten, was so Freiheit anbetrifft, und die diese Freiheit auch in der Schule total ummünzen. Also in türkischen Familien (…) ist es tatsächlich so, dass der Junge Pascha ist. Und wenn er dann auch noch viele Mädchengeschwister hat, potenziert sich das Ganze. Und er verhält sich in der Schule eben oft ganz genauso.“3 Rassistische Bilder dieser Art über eine vermeintliche türkische Kultur und Geschlechterrollen legitimieren nicht nur die Bildungsungleichheit in Deutschland, sondern unterstützten auch das Selbstverständnis der Grauen Wölfe, nach dem ihre Ideologie und der dazugehörige Erziehungsstil die ganze, wahre, einzige türkische Kultur repräsentiere und Abweichungen davon zu bekämpfen seien. Umso mehr von Bedeutung ist es in der Betrachtung des Phänomens Türkischer Ultranationalismus, sich mit eigenen Privilegien und Machtstrukturen auseinanderzusetzen und eigene blinde Flecken zu erkennen. Nur durch eine zu entwickelnde Haltung wird ein Umgang möglich, welcher sich mit demokratiefeindlichen Gruppen wie den Grauen Wölfen reflexiv und konfrontativ auseinanderzusetzen in der Lage ist.

Emre Arslan ist Sozialwissenschaftler und Professor für Soziale Arbeit an der IU International University Düsseldorf.

1 Bourdieu, Pierre (2012) Männliche Herrschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

2 Öztürkler 2001, Übers. n. Arslan, Emre (2009) Der Mythos der Nation im Transnationalen Raum, Wiesbaden: VS Verlag: 118.

3 Zitiert in Gomolla, M. & Radtke, F.O. (2009). Institutionelle Diskriminierung: Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule, Wiesbaden: VS Verlag: 155.

 

Teilen