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GRAUE WÖLFE: Geschichte und Ideologie I

Özay Göztepe

Bekanntermaßen wurde in den letzten paar Jahren in Österreich, Frankreich, den Niederlanden und Deutschland eine Reihe von Sanktionen gegen die Grauen Wölfe verhängt. Anschließend wurde im Europäischen Parlament darüber diskutiert, sie in die Liste der „Terrororganisationen der Europäischen Union“ aufzunehmen. Die Tatsache, dass die Grauen Wölfe, die in der Türkei seit mehr als 50 Jahren eine blutige Geschichte haben, in Europa erst in jüngster Zeit in den Fokus der Öffentlichkeit rücken, offenbart einen erheblichen Informationsmangel hierzulande über den Charakter dieser Bewegung. In diesem Artikel geht es in erster Linie darum, die grundlegenden Bestandteile der Bewegung darzustellen und dem Informationsdefizit zu diesem Thema in einem ersten Aufschlag entgegenzuwirken.

Für ein besseres Verständnis sind zunächst nähere Erläuterungen zu zwei Organisationen zu geben: die Bozkurtlar (Graue Wölfe) und Milliyetçi Hareket Partisi (MHP – die Partei der Nationalistischen Bewegung).

Die Organisation, die in Europa als die Grauen Wölfe bekannt ist, agiert in der Türkei unter dem Namen Ülkü Ocakları (Idealistenvereine) und ist ideologisch und organisatorisch der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) verbunden. Idealisten-Vereine, die in der Türkei hauptsächlich aus jungen Anhänger:innen bestehen, weisen in Deutschland eher eine gemischtere Struktur auf und organisieren sich seit 1978 unter dem Namen Avrupa  Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (ADÜTDF – Föderation der demokratisch-idealistischen Türkenvereine in Europa), Kurzname Türkische Föderation. Die direkt von der MHP gegründete Türkische Föderation spaltete sich in der ersten Hälfte der 1980er Jahre: Musa Serdar Çelebi, die wichtigste Figur in Europa und der Vorsitzende der Organisation, wurde am 13. Mai 1981 mit der Begründung festgenommen, er gehöre zu den Idealisten, die am Attentat auf den Papst involviert waren. Aus diesem Grund verschlechterte sich sein Verhältnis zum MHP-Vorsitzenden Alparslan Türkeş. Çelebi, der später von Türkeş zum Verräter erklärt wurde, trennte sich von der Türkischen Föderation und gründete die Avrupa Türk Islam Kültür Dernekleri Birliği (ATİB – Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa). Die Organisation steht auch in enger Verbindung mit der Büyük Birlik Partisi (BBP – Große Einheitspartei), die nach der Abspaltung von der MHP von den Militanten der Idealistenvereine gegründet wurde; diese waren in den 1970er Jahren an vielen Mordtaten und Massakern in der Türkei beteiligt und setzten sich für die Scharia ein. 

Die Partei der Nationalistischen Bewegung, an die auch die Grauen Wölfe angegliedert sind, wurde von Alparslan Türkeş gegründet. Nachdem er 1944 im Rassismus-Turanismus-Verfahren[1]  zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, kam er nach einiger Zeit aus dem Gefängnis und  ging für eine Counter-Guerilla-Ausbildung der NATO in die USA. Nach seiner Rückkehr in die Türkei übernahm er als Kudretli Albay (Mächtiger Oberst) eine wesentliche Rolle beim ersten Militärputsch in der Geschichte der Republik Türkei (27. Mai 1960). Als seine Ambitionen, das Putschregime lange an der Macht zu halten, jedoch deutlicher zutage traten, überwarf er sich mit Offizieren des Komitees der Nationalen Einheit, woraufhin er als Botschafter in Indien faktisch ins Exil geschickt wurde. Nach kurzer Zeit kehrte Türkeş in die Türkei zurück und übernahm 1965 den Vorsitz der Republikanischen Bauern-Volkspartei (CKMP – Cumhuriyetçi Köylü Millet Partisi). Auf dem Kongress vom 8.–9. Februar 1969 ließ er den Namen der CKMP in MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung) umbenennen. Auf demselben Kongress erklärte er sich – ähnlich wie Hitler sich zum Führer, Mussolini sich zum Duce – zum Başbuğ, Oberster Führer bzw. Oberwolf. Mehr als 30 Jahre lang blieb er der unangefochtenen Führer dieser Bewegung; nach seinem Tod wurde Devlet Bahçeli im Jahr 1997 zum Vorsitzenden der MHP gewählt. Bahçeli hat diese Position nun seit rund 25 Jahren inne.

Im Folgenden wird auf die grundlegenden Ansichten der MHP eingegangen.

Nationalismus/Rassismus: Das charakteristische Merkmal der MHP ist die nationalistische Sichtweise, die auch an ihrem Parteinamen deutlich erkennbar ist. Es ist rhetorische Strategie, dass der Nationalismus in der Außendarstellung in einem verharmlosenden Kontext als „Liebe zu Vaterland und Nation“ oder als „Unabhängigkeit“ propagiert wird. Denn der Rassismus ist die Grundlage ihres Nationalismus. In ihrer rassistischen Sicht orientiert sich alles an der Idee des Türkentums und der Türken, so dass jede Handlung im Interesse der Türken und zu ihren Gunsten erfolgen muss. Der Hintergrund dieser Idee, die sich allein auf das nationale Interesse bezieht, ist die Überzeugung, dass die Türken einzigartige Schöpfungen seien und dass keine andere Ethnie an die Heldentaten der Türken heranreiche: „eine türkische Einheit kann mühelos drei, fünf oder sogar mehr gegnerische Einheiten niederschmettern kann. Das haben sie in der Geschichte mehrmals bewiesen […]“ (Türkeş, 1975: 362).

Gemäß MHP lebt diese Rasse, die in der Geschichte “große Reiche gründete, über Kontinente und ferne Länder herrschte, Zivilisation und Licht brachte, wohin sie auch ging” (Türkeş, 1976: 41), heute in verschiedenen Teilen der Welt verstreut. Türken, die sich durch ihre „hoch zivilisatorischen Qualitäten und ihre kulturelle Überlegenheit“ (Türkeş, 1974: 5) auszeichneten, müssten sich unter einer Flagge vereinen, um sich vom fremden Joch zu befreien und wieder eine Weltmacht zu werden. Nur durch diese Vereinigung würde jene “glorreiche Zeit” zurückkehren, in der die Türken von der Krim bis nach Wien, von Algerien bis in den Jemen herrschten und das Schwarze Meer sowie das Mittelmeer in einen türkischen See verwandelten. Diese Politik, die für die Vereinigung der Siedlungsgebiete aller türkischen Völker unter einer Flagge kämpft, wird in der idealistisch-nationalistischen Literatur als Turanismus bezeichnet.

Wie ist die Grundhaltung der MHP gegenüber anderen Ethnien, wenn sie die Vereinigung der Türk:innen in verschiedenen Teilen der Welt unter einer einzigen Flagge anvisiert? Die MHP hat, wie jede rassistische Organisation, gegenüber anderen Nationen eine feindselige Haltung. In der Vergangenheit waren Armenier:innen und Griech:innen die ersten Adressat:innen dieses Rassismus; mittlerweile sind auch die Kurd:innen von einer verstärkten Feindseligkeit seitens der MHP betroffen. Die Türkei ist für die MHP keine multinationale Gesellschaft, sondern eine Nation, die aus einer einzigen Ethnie besteht; diese Sichtweise deckt sich ebenfalls mit dem Status Quo, der die Existenz der Kurd:innen seit der Gründung der Türkei leugnet. Demnach gebe es in der Türkei keine unterschiedlichen Ethnien und ihre Sprachen. Beispielsweise sei die kurdische Sprache keine eigenständige Sprache, sondern bestehe – ähnlich wie die osmanische Sprache- aus verschiedenen Elementen, die durch die Mischung von verschiedenen Kulturen zusammengetragen wurden.

Die fremdenfeindliche Grundeinstellung der MHP richtet sich nicht nur gegen die Armenier:innen, Griech:innen und Kurd:innen in der Türkei, sondern auch gegen europäische Länder. Gemäß den Narrativen der MHP versuchen all diese Kräfte, die Türkei zu zerstören: die europäischen Länder von außen, die Minderheiten von innen. „Die Kreuzfahrer, Mörder der Muslime, Türkenfeinde, Verbrecher der Menschheit“ (Bahçeli, 2009: 29) haben hinterhältige Pläne für die Türkei. Demnach wollen all diese Kräfte die Grundlagen zerstören, auf denen die nationale Einheit und die unteilbare Integrität der Türkei beruhen – ein Staat, eine Nation, eine Flagge und eine Sprache.

Islamismus: Die MHP bevorzugte in ihren Anfangsjahren ein oberflächliches Verhältnis zum Islam. In dieser Zeit bediente sie sich eher türkisch-nationalistischer Ansätze und islamistische Verknüpfungen dienten nur als Instrument. In der MHP-Ideologie verschmelzen der Stolz und das Nationalbewusstsein des Türkentums mit der Moral und Tugend des Islams. Die Menschen der „türkisch-islamischen Welt, die seit mindestens zwei Jahrhunderten durch einen schrecklichen Ausrottungsplan Zielscheibe des Imperialismus sind“ (Karabulut, 2919: 74), fühlen sich türkisch „wie die Berge Tian Shan“ (übersetzt Himmlischer Gebirge)[2] und muslimisch „wie der Berg Hira[3]“ gleichzeitig. Wenn das Türkentum der Körper sei, sei der Islam die Seele; ein seelenloser Körper werde irgendwann zur Leiche. Diese Verbindung zum Islam, die mit Parolen wie “auch wenn unser Blut fließt, der Sieg gehört dem Islam” ausgedrückt wird, entwickelte sich mit der Verschärfung der bürgerkriegsähnlichen Bedingungen in der Türkei zu einem strukturelleren Verhältnis. Vor allem seit 1978 kam es zu Massenmorden in Begleitung von Dschihad-Aufrufen. An die Stelle des reinen Türkismus tritt das türkisch-islamische Ideal.

Ein kurzer Einschub zur ehemaligen Konkurrentin MSP: Diese wurde am 11. Oktober 1972 als Nachfolgerin der nach dem Militärputsch vom 20. Mai 1971 aufgrund ihrer anti-laizistischen Haltung verbotenen Nationalen Ordnungspartei (MNP – Milli Nizam Partisi, 26. Januar 1970) gegründet. Auch der aktuelle Präsident Recep Tayyip Erdoğan und sein Team entstammen den Reihen der von Necmettin Erbakan gegründeten MSP. Sie wurde nach dem Putsch vom 12. September 1980 verboten. Die MSP wurde im Jahr 1983 unter dem Namen Wohlfahrtspartei (RP – Refah Partisi) wiedergegründet. Sie wurde am 28. Februar 1997 nach einem Gerichtsverfahren verboten. Nach dem Verbot der Nachfolgerin Tugendpartei (FP – Fazilet Partisi) wurde die Partei erneut unter dem Namen Partei der Glückseligkeit (SAADET – Saadet Partisi) wieder gegründet und sie ist unter diesem Namen noch aktiv. Nach der Auflösung der RP (Wohlfahrtspartei) spaltete sich die Bewegung jedoch in zwei Stränge und verlor ihren Einfluss weitgehend. Die wichtigste Gruppe, die aus dieser Spaltung hervorging, gründete 2002 die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP – Adalet ve Kalkınma Partisi) und regiert seitdem das Land.

Mit der zunehmenden Verbindung zum Islam wurde auch die dschihadistische Grundauffassung des Islamismus von der MHP-Politik übernommen. Insbesondere unter den Idealist:innen, die nach dem Militärputsch vom 12. September 1980 verhaftet wurden, entwickelte sich der Islamismus zur Hauptorientierung. Demzufolge seien die wichtigsten Aufgaben im Leben die Verbreitung und Verherrlichung des Namens Allahs (I’la-ı Kalimatullah), die Beherrschung der ganzen Welt (Cihan Hakimiyeti) und die Errichtung einer neuen Ordnung nach Allahs Geboten (Nizam-ı Alem). Denn der Islam sei nicht nur für eine bestimmte Nation oder Gesellschaft auf die Erde gekommen, sondern als eine Weltreligion für die gesamte Menschheit. Nach dem Verständnis von Idealist:innen und türkischen Islamist:innen ist die Eroberung Istanbuls einer der wichtigsten Schritte auf diesem Weg und wurde vor Hunderten von Jahren vom Propheten des Islams “angekündigt”. Der Unterschied zwischen den Idealist:innen und den Islamist:innen besteht nur darin, dass die Idealist:innen die alten türkischen Epen in ihre Ideologie einbeziehen und die Türk:innen als Subjekt dieses Dschihad-Konstrukts positionieren.

In dem zweiten Teil des Beitrags werde ich auf weitere Bestandteile der Ideologie der MHP eingehen, wie Antikommunismus, Autoritarismus und Paramilitarismus.


[1] Das Rassismus-Turanismus-Verfahren ist ein Gerichtsverfahren zwischen 1944 und1945 in der Türkei, in dem 23 bekannte türkische Personen wegen ihrer rassistischen Weltansicht auf der Anklagebank saßen und 10 von ihnen zur Haft verurteilt wurden.  

[2] Tian Shan erstreckt sich über die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan sowie das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang im Nordwesten von China

[3] Der Berg beherbergt die Höhle von Hira, die für Muslime auf der ganzen Welt von enormer Bedeutung ist, da der islamische Prophet Mohammed in dieser Höhle meditiert haben soll, und es wird weithin angenommen, dass er hier seine erste Offenbarung erhielt.


Quellenangabe

Bahçeli, Devlet (2009). Milliyetçi Hareket Partisi 9. Olağan Kurultay Açılış Konuşması (Eröffnungsrede des 9. Parteitags der Partei der Nationalistischen Bewegung), Ankara: MHP Genel Merkezi Yayınları.

Karabulut, Gazi (2019). Ülkücü Türk Milliyetçiliği Temel Kavramlar (Grundideen des idealistischen türkischen Nationalismus), Ankara: Kripto Yayınları.

Türkeş, Alparslan (1974). 9 Işık Milliyetçilik Yolu (die Neun-Strahlen-Doktrin ), Ankara: MHP Genel Merkezi Yayınları.

Türkeş, Alparslan (1975). Temel Görüşler (Grundlagen), İstanbul: Dergâh Yayınları.

Türkeş, Alparslan (1976). Türkiye’nin Meseleleri (Belange der Türkei), İstanbul: Kutluğ Yayınları.

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