Die türkische (extreme) Rechte hat in Deutschland ein hohes Mobilisierungspotenzial bei Menschen, die einen biographischen Bezug zur Türkei haben. Insbesondere die sog. „Grauen Wölfe“ stechen dabei mit ihrer Reichweite und großen Anzahl an Anhänger*innen heraus. Lange Zeit eher marginal beachtet, scheinen Informationen, Beiträge und Projekte zum türkischen Ultranationalismus und auch das generelle Interesse an diesem Phänomen zu wachsen. Ein Aspekt, der in diesem Themenkomplex bisher noch weniger betrachtet wurde, ist der Sport, insbesondere der (Amateur-)Fußball.
Der Sport und vor allem der Fußball im Verein gelten als klassische und niedrigschwellige Formen der migrantischen Selbstorganisation. Kleine lokale Amateurvereine bieten dabei ansprechende Zugehörigkeits-, Identitäts- und Selbstwirksamkeitsangebote, die migrantisierten Menschen und besonders Jugendlichen in der mehrheitsdeutschen Gesellschaft oft verwehrt bleiben. Die Erlebniswelt Fußball schafft an dieser Stelle eine besondere Möglichkeit der Teilhabe und der Identifikation. Was aber, wenn das sportliche Angebot ideologisch motiviert bereitgestellt wird?
Schlechte Erfahrungen im Alltag der Jugendlichen gepaart mit einem guten (sozialen) Angebot seitens der ideologisch motivierten Akteur*innen machen migrantische Fußballvereine zu einem Risikobereich: Einige Vereine gelten als „closed shops“, in denen Prozesse der Radikalisierung und der Isolation stattfinden.
In dem Recherche- und Präventionsprojekt „Türkischer Ultranationalismus im (Amateur-)Fußball“ wird auf ebendiesen Aspekt Bezug genommen. Im Rahmen des Projekts wurden Expert*inneninterviews mit Menschen aus der Beratung, aus der kommunalen Integrationsarbeit und Politik, aus der Wissenschaft, aus dem Sport- und insbesondere Fußballbereich, aus der Sozialen Arbeit und mit von Rassismus Betroffenen geführt, um einen möglichst multiperspektivischen Blick auf das Themenfeld zu haben. Die Ergebnisse der Interviews beziehen sich dabei auf vielfältige Aspekte des Themenkomplexes, wie zum Beispiel auf fehlendes Wissen und benötigte politische Verantwortung. An dieser Stelle wird wiederholt betont, wie viel Aufklärung benötigt wird. Meist werden beispielsweise „türkisch“ und „muslimisch“ gleichgesetzt. Der Blick auf nicht mehrheitsdeutsche Menschen sei zu Teilen sehr undifferenziert. Ebenso müssen komplexe Sachverhalte verstanden werden, denn: Einerseits erfahren türkische Ultranationalist*innen in der Gesellschaft Ablehnung, Ausschluss und Diskriminierung, andererseits diskriminieren sie auch selbst. Dass hier also besondere Aufmerksamkeit geboten ist, sei den wenigsten bewusst.
Ein weiterer Aspekt, der in den Interviews zur Sprache kommt, ist der Appell nach mehr politischer Verantwortung. Akteur*innen, vor allem im sozialen Bereich, werden dazu angehalten, mehr Verantwortung zu übernehmen, sich dem Thema anzunehmen und diese Problematik nicht zu verdrängen. Darauf weisen die Expert*innen hin, die mitunter selbst aus der sozialarbeiterischen und pädagogischen Arbeit berichten können Die Angebote der türkischen Nationalist*innen seien durchdachte und wirksame Freizeitangebote im sozialen Raum, die den marginalisierten Jugendlichen sonst oft verwehrt blieben. Dem müsse entgegengesteuert werden. Einen besonderen Stellenwert hat dabei die Perspektive derer, die von der Gewalt und der Ausgrenzung durch türkische Rechte betroffen sind. Diese werde in dem Diskurs sehr vernachlässigt, obwohl es insbesondere Betroffeneninitiativen u.Ä. seien, die wertvolle Arbeit um diesen Themenkomplex leisten.
Weiterhin berichten die interviewten Expert*innen von der Rolle der Jugend als besonders vulnerablen Lebensabschnitt. Jugendliche sind sowohl stark von außen beeinflussbar als auch die größte Zielgruppe türkischer Ultranationalist*innen. Diese erkennen, dass der Fußball als einer der wenigen Bereiche angesehen wird, in denen Migrant*innen durch Leistung und Gemeinschaft Anerkennung erhalten und das Gefühl der eigenen Wirkmächtigkeit bekommen. Das Wissen darum wird auch in den Interviews gespiegelt. Der (organisierte) Fußball verbinde und fördere Integration, Zugehörigkeit und Vielfalt. Jedoch werden Fußballspiele auch als potenzielle Stellvertreterkriege bezeichnet. Diese Ambivalenz der Kraft des Fußballs wird immer wieder stark hervorgehoben.
Ebenfalls wird die Rolle von Wiedererkennungscodes und -symbolen betont. Diese würden nicht immer mit nationalistischer Absicht reproduziert. Vorbilder, Trainer*innen, jubelnde Fußballfans, o.Ä. zeigen nationalistische Symbole, die so Stück für Stück enttabuisiert werden, woraufhin Jugendliche diese dann wieder reproduzieren – oft als Zeichen der türkischen Identität und nicht als Bekennen zu nationalistischem Gedankengut.
Außerdem berichten die Interviewten, dass sowohl der mehrheitsdeutsche Part der Gesellschaft als auch die eigene türkische Familie Ansprüche an die Identitätsbildung der Jugendlichen haben. Viele migrantisierte Jugendliche finden sich in dieser Kluft wieder und empfinden folglich eine Spannung zwischen den Ansprüchen „beider“ Seiten.
Ein weiterer Aspekt, der wiederholt in den Expert*inneninterviews geschildert wird, bezieht sich auf Abwehrmechanismen, sobald das Problem des türkischen Ultranationalismus thematisiert wird. Angebrachte Kritikpunkte an der türkischen rechten Ideologie würden als antitürkischer Rassismus geframed und somit zu Teilen unwirksam gemacht oder ausgehebelt.
Was fehlt also konkret, wenn wir uns dem Thema der türkischen (extremen) Rechten im Fußball widmen und auch anerkennen wollen, dass der mehrheitsdeutsche Teil der Gesellschaft eine Mitverantwortung trägt? Wie können wir migrantisierte Jugendliche und ihre teils komplexen Identitäten stärken, damit sie nicht in die Fänge von Nationalist*innen und Rechten geraten? Welche Strukturen müssen gefördert und konsultiert werden, damit wir angemessen über den Themenkomplex sprechen und ihn bearbeiten können?
An allererster Stelle stehen das Sammeln, Bündeln und Aufbereiten von Wissen. Während es mittlerweile nicht wenige Personen und Institutionen gibt, die das Thema bearbeiten, verläuft diese Gesamtheit an Arbeit noch ziemlich „ungebündelt“. Die interviewten Expert*innen befürworten eine solche Bündelung und sehen dies in Form einer Fachstelle o.Ä. ermöglicht.
Weiterhin sprechen sich die Interviewten stark für mehr Aufklärung und Wissensvermittlung für Entscheidungsträger*innen aus. In Anbetracht der Realität und der Verbreitung des türkischen Nationalismus in Deutschland sind die Wissenslücken gravierend und müssen den Expert*innen zufolge schnellstmöglich geschlossen werden. Dafür können verschiedene und zielgruppenspezifische Formate der Wissensvermittlung angebracht werden.
Darüber hinaus wird immer wieder Bezug auf Kritische Jugendarbeit genommen: Dass antirassistische und kritische Identitäts- und Zugehörigkeitsangebote notwendig sind, ist sowohl in der Theorie als auch in der Praxis Konsens. Diese wichtigen Angebote dürfen jedoch nicht von Akteur*innen kommen, die eine nationalistische Agenda vertreten. Räume der positiven Identifizierung sind also zentral, wenn Jugendlichen eine positive Erlebniswelt geboten werden möchte.
Zuletzt wird in den Interviews wiederholt eine angemessene Beratungsstruktur betont. Es wird bemängelt, dass es wenige zivilgesellschaftliche Beratungsangebote gibt, die angemessen ausgestattet sind, um mit türkischstämmigen Menschen zu arbeiten. Für migrantisierte Menschen, die ein solches Angebot wahrnehmen möchten, ergeben sich spezifische Bedarfe, wie beispielsweise ein Angebot auf einer anderen Sprache als Deutsch oder eine ebenfalls migrantisierte Person in der beratenden Position. Dies kann für mehr Vertrauen sorgen, was in dem Beratungsprozess ganz zentral ist. Perspek’tif:a fokussieren in ihrer Arbeit auslandsbezogene rechte Ideologien und gelten somit als Besonderheit in der deutschen zivilgesellschaftlichen Beratungslandschaft. Ähnliche Beratungsangebote sollten nach Einschätzung der interviewten Expert*innen in jedem Bundesland und in jeder Region Deutschlands etabliert werden.
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