Blog Beitrag

Zur Pädagogik gegen Antisemitismus in der postmigrantischen Gesellschaft

Olaf Kistenmacher

Seit über 20 Jahren wird in Deutschland darüber diskutiert, inwieweit es einen
spezifischen ‚migrantischen Antisemitismus‘ gibt. Für die pädagogische Arbeit
gegen Antisemitismus bei jungen Menschen ist es jedoch nicht hilfreich, zwischen
‚migrantischen‘ und ‚nichtmigrantischen‘ Personen zu unterscheiden – auch wenn
die Familiengeschichte Einfluss darauf haben kann, wie sich Judenfeindschaft
ausdrückt.

Wird in Deutschland über ‚Migration‘ gesprochen, geht es oft um etwas anderes als
um Einwanderung. In wissenschaftlichen und politischen Diskussionen über die
Anforderungen an eine Holocaust Education – schreibt Rosa Fava in ihrer Studie Die
Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft –
heißt „migrantisch“ oft nicht einfach eingewandert. Mit dem Begriff sind in der Regel auch nicht französische oder schwedische, sondern ‚arabische‘, ‚muslimische‘ oder ‚türkische‘ Jugendliche gemeint (Fava 2015: 260 f.). Hinzufügen ließe sich, dass in diesen Debatten oft zudem die Situation von Jüdinnen*Juden in Deutschland
ausgeblendet wird, von denen viele – wie nicht zuletzt in dem Kurzfilm „Mazel Tov
Cocktail“ (Khaet/Paatzsch 2020) zu sehen – ebenfalls eine Migrationsgeschichte
haben. Sie oder ihre Familien stammen aus den Staaten der früheren Sowjetunion.
Wird über Antisemitismus „in der Migrationsgesellschaft“ gesprochen, wird zwischen verschiedenen Faktoren, die für die Biografie und Persönlichkeitsbildung von Menschen relevant sind, oft nicht unterschieden: dem individuellen und familiären Herkunftsort, der kulturellen Identität, der Religion usw. Nach einem
Forschungsbericht des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung – betitelt
Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen – fällt die Zustimmung zu klassisch antisemitischen und antiisraelischen Positionen unter Muslim*innen prozentual höher aus als unter Nichtmuslim*innen, während sie zu Positionen, die dem Schuldabwehr-Antisemitismus zuzurechnen sind, geringer ist. Damit sind die Gründe für die größere Zustimmung allerdings noch nicht geklärt. Es wäre zu einfach, sie nur in der religiösen Identität zu suchen. Denn in einigen mehrheitlich muslimischen Ländern, wie in Bosnien-Herzegowina oder Nigeria, liegt die Zustimmung zu antisemitischen Positionen „unter dem globalen Durchschnitt“ (Arnold 2023: 11).
Jede Identität wandelt sich und jede Identität ist zugleich Selbstdarstellung oder auch Inszenierung. Die Identität als ‚nichtdeutsch‘ kann ein besonders auffälliges Beispiel für eine solche Inszenierung sein – wie bei dem Rapper Kollegah, der mit
bürgerlichem Namen Felix Martin Andreas Matthias Blume heißt. Würde er unter
dem Namen Felix Blume auftreten, würde sicher eher nach christlichen Wurzeln
seiner politischen Haltung gesucht als nach ‚nichtdeutschen‘ Motiven. Bei dem
großen Skandal um die Documenta fifteen wurde immer wieder betont, die Gruppe
Ruangrupa, die die Documenta im Jahr 2022 kuratierte, sei mit den deutschen
Debatten und Gepflogenheit nicht vertraut. Liest man aber ihre erste Presseerklärung, abgedruckt in der Berliner Zeitung, wird deutlich, dass zumindest ein Teil von ihnen oder des künstlerischen Teams die Auseinandersetzung um die
Israelboykottkampagne BDS und den Bundestagsbeschluss zum Boykott des
jüdischen Staats ganz genau verfolgt hat. So zitierten sie den Wortlaut der „Initiative
Grundgesetz 5.3 Weltoffenheit“ und verwiesen auf Beiträge aus der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung und dem Monopol-Magazin (Ruangrupa u. a. 2022).

Für die pädagogische Arbeit gegen Antisemitismus sind solche identitätspolitischen
Zuordnungen und Statistiken über die Verbreitung von Judenfeindschaft allerdings
nur bedingt hilfreich. Denn wir arbeiten mit Individuen, nicht mit Repräsentant*innen eines Kollektivs. In den zurückliegenden zehn Jahren hat der offen geäußerte Judenhass in Deutschland massiv zugenommen, und zwar in der ganzen Gesellschaft (Zick/Mokros 2023: 84–89). Es ist leider davon auszugehen, dass die Enttabuisierung von offen geäußerter Judenfeindschaft und die antisemitischen Aggressionen in den kommenden Jahren noch weiter zunehmen werden. 2007 schrieben Barbara Schäuble und Albert Scherr noch, ihnen seien bei Workshops gegen Antisemitismus seltener Jugendliche und junge Erwachsene mit geschlossen antisemitischen Weltbildern begegnet als vielmehr Menschen, die eigentlich Judenfeindschaft wie Rassismus ablehnten. Trotzdem hielten viele der Befragten gewisse antisemitische Vorstellungen für wahr oder für denkbar (Schäuble/Scherr 2007: 10). Gerade bei denjenigen, die sich selbst nicht für antisemitisch halten, lässt sich analysieren, was Antisemitismus motiviert und verursacht.
Die Stereotype, die Schäuble und Scherr 2007 vorfanden, waren mit Vorstellungen
nationaler und kultureller Zugehörigkeit, mit Verschwörungsmythen, mit Positionen
zur Bedeutung der deutschen Geschichte für die Gegenwart oder mit Vorstellungen
über die verschiedenen Konflikte im Nahen Osten verbunden. Manche
antisemitischen Vorstellungen haben die Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Büchern oder Filmen, manche haben sie aus Gesprächen mit Gleichaltrigen, manche von ihren Eltern oder anderen Autoritäten. Zu diesen Autoritäten gehören auch Lehrkräfte.
Es wird oft so getan, als käme der Antisemitismus an Schulen in Deutschland von den Schüler*innen. Auf Grundlage von Interviews mit jüdischen Lehrkräften und
Schüler*innen betont Julia Bernstein hingegen, dass der „israelbezogene
Antisemitismus“ unter nichtjüdischen Lehrkräften „nahezu salonfähig“ sei (Bernstein 2020: 127). Wenn zum Beispiel eine Lehrkraft im Unterricht sagt, die „letzten Vorfälle am Gaza-Streifen“ seien „genauso wenig“ zu tolerieren, „wie Menschen in die Gaskammer zu schicken“ (zitiert nach: Bernstein 2020: 222), muss sich niemand wundern, wenn ihre Schüler*innen glauben, Israel beginge auf der Welt das größte Unrecht, und die Politik des jüdischen Staats wäre letztlich dasselbe wie die nationalsozialistische Vernichtungspolitik. Solche Dynamiken zwischen Lehrpersonal und Schüler*innen müssen wir in der pädagogischen Arbeit beachten. Welchen Anteil auf der Seite der Schüler*innen ihre kulturelle oder religiöse Identität oder ihre Erfahrungen mit Rassismus haben, müssen wir versuchen, individuell zu ergründen. Das ist im Rahmen der üblichen Kurzzeitpädagogik allerdings nur begrenzt möglich.

Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus
Für viele nichtjüdische Schüler*innen und Lehrkräfte ist Antisemitismus, so Bernstein, nichts anderes als eine Form des Rassismus. Das führt auch zu Irritationen, wenn sich Jugendliche antisemitisch äußern, die von Rassismus direkt betroffen sind. Deswegenist es grundlegend, die Unterschiede zwischen Antisemitismus und den verschiedenen Formen des Rassismus zu verdeutlichen, die der Politikwissenschaftler Moishe Postone in seinem Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ 1979 benannt hat. Die Gemeinsamkeiten sind offensichtlich: Im Antisemitismus wie im Rassismus werden Gruppen von ‚Fremden‘ definiert und angefeindet, und stets sindsie es, denen eine Macht zugeschrieben wird. Anders als im Rassismus gegen Peopleof Colour wird Jüdinnen*Juden in antisemitischen Aussagen keine körperliche,sichtbare Macht zugeschrieben, sondern eine nichtkörperliche, unsichtbare. Deswegen gibt es nur im modernen Antisemitismus die Imagination einer„unfaßbare[n] internationale[n] Verschwörung“ (Postone 2005: 179).
Wie Judith Coffey und Vivien Laumann in ihrem Buch Gojnormativität zeigen, schützt selbst eine klar antirassistische Haltung nicht notwendigerweise vor antisemitischenVorstellungen. Jüdinnen*Juden würden, schreiben sie, zudem in der antirassistischenSzene „zunehmend auf der Seite der Privilegierten verortet“ (Coffey/Laumann 2021:85). Dass jüdische Personen auf der Straße oftmals nicht als jüdisch auffallen, könnenur auf den ersten Blick als Privileg erscheinen. Denn wie Yasmine Dreamz schreibt: „While it is a privilege to be ABLE to hide your identity, it is not a privilege to HAVE todo so“ (zitiert nach: Coffey/Laumann 2021: 100).
Eine klare Ablehnung von Rassismus schützt im Übrigen ebenso wenig vor Verschwörungsmythen, die häufig eine Tendenz zu antisemitischen Weltbildernhaben. Das haben nicht zuletzt die Coronaleugner*innen-Aufmärsche der letzten drei Jahre gezeigt. Mit „Die verbrannte Leiche von Ocarina Island“ hat die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) eine Methode entwickelt, die spielerisch personalisierende Denkweisen hinterfragt und damit eine Grundlage vonVerschwörungsideologien infrage stellt (Can 2012).
Einer anderen Auffassung, die in Deutschland weit verbreitet ist und zwischen Antisemitismus und Rassismus oder Sexismus qualitativ unterscheidet, ist allerdings entgegen zu wirken. Denn während viele Jugendliche wie Erwachsene berücksichtigen,dass es neben offenen, gewalttätigen Formen von Rassismus oder Sexismus auch latente, unterschwellige Formen gibt, gilt als Antisemitismus oft nur, was direkt mit dem Nationalsozialismus und rechtsextremen Gruppierungen verbunden ist (Kistenmacher 2021: 176). Die Berliner Bildungsbausteine haben bereits vor über 15 Jahren mit „Ein deutscher Jude gibt auf“ eine Methode entwickelt, die die Auswirkungen eines latenten, schwer greifbaren, ‚unbewussten‘ Antisemitismus auf der Grundlage einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2003 in den Blick nimmt (Bildungsteam Berlin-Brandenburg/Tacheles reden! 2008: 114–155).
 
Deutsche Vergangenheit und Judenfeindschaft seit 1945

Studien des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den 1950er Jahren haben
gezeigt, dass die Anerkennung der Verbrechen der Nationalsozialisten nicht zu einer
„Abkehr vom Antisemitismus“ führt. Das Wissen um die Shoah kann sogar eine neue Form der Judenfeindschaft motivieren. Denn bei nichtjüdischen Deutschen könne es – so Theodor W. Adorno in dem Aufsatz „Schuld und Abwehr“ (2003 [1954]) – unbewusst Schuldgefühle wecken, die abgewehrt würden. Sie sehen in Überlebenden der Shoah oder in Jüdinnen*Juden dann Aggressor*innen, die die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, feinden sie an oder sie versuchen notorisch, die eigene Schuld zu relativieren. Dieses Verhalten resultiert nicht nur aus dem eigenen Verhalten vor 1945 oder aus der familiären Beziehung zu den Nazi-Täter*innen. Letztlich ist diese Abwehr bei allen Menschen möglich, die sich als Deutsche identifizieren und somit über die nationale Identität eine Beziehung zu den Nazis haben.
Bei Führungen durch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist mir mitunter aufgefallen, dass Jugendliche, die sich nicht nur als ‚deutsch‘, sondern auch zum Beispiel als ‚persisch‘, ‚syrisch‘ oder ‚türkisch‘ identifizieren können, diese Möglichkeit nutzen, um sich für die Zeit des Gedenkstättenbesuchs als ‚nichtdeutsch‘ zu sehen. Sie bestehen natürlich zu Recht darauf, grundsätzlich als deutsche Staatsbürger*innen anerkannt zu werden. Während des Gedenkstättenbesuchs allerdings distanzieren sich manche von ihnen, ebenfalls zu Recht, davon, ‚deutsch‘, im Sinne von: Nachkommen der Nazi-Täter*innen, zu sein. Es kann sinnvoll sein, mit Jugendgruppen genau die Fragen zu besprechen, die mit Schuld und Abwehr zu tun haben: Welche Rolle spielt die Verwandtschaft mit den Nazi-Täter*innen für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Welche spielt die nationale Zugehörigkeit für die eigene Identität? Welche Rolle spielen Verbrechen der Vergangenheit für die Gegenwart?
Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, Kinder aus Familien mit
Migrationsgeschichte benötigten einen besonderen Zugang zur deutschen
Geschichte, muss ich betonen, dass meine Erfahrungen bei den Führungen durch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme dem widersprechen. Die Nazi-Verbrechen sind für die meisten Menschen, die KZ-Gedenkstätten besuchen, ohne Unterschied schockierend, und sie wollen in kritischer Abgrenzung verstehen, wie solche Verbrechen möglich sind. Es kann sein, dass Jugendliche mit einer deutsch-palästinensischen oder deutsch-türkischen Identität von sich aus den Wunsch danach äußern, diese Geschichte noch mit weiteren Bezügen ihrer Identität zu verknüpfen. So können wir die Geschichte der türkischen Politik bis 1945 oder des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, mit einbeziehen. Al-Husseini baute während des Zweiten Weltkriegs auf dem Balkan eine muslimische SS-Division auf (Rheinisches JournalistInnenbüro 2005: 197–203). Doch die Leitfrage sollte lauten, was die nationalsozialistische Vergangenheit für die Menschen bedeutet, die heute in Deutschland leben.

Das Feindbild Israel

In einer Hamburger Schule kann es vorkommen, dass unter den Schüler*innen der
einen Klasse „der Nahe Osten“ bereits ein Thema ist, über das sie sich
auseinandersetzen, während es in der Parallelklasse nicht der Fall ist, obgleich die
sozio-kulturelle Zusammensetzung der Schüler*innen ähnlich ist. In den 20 Jahren
meiner Arbeit bin ich immer wieder in Schulklassen gekommen, die sich
‚propalästinensisch‘ positionierten. Eine proisraelische Haltung habe ich hingegen nur tendenziell und nur bei Einzelnen wahrgenommen. Das ist in Deutschland kein
Wunder. Die Haltung von Jugendlichen spiegelt die hiesigen politischen Debatten
wider. Insbesondere Jugendliche, die sich für eine bessere Welt engagieren wollen,
werden durch politische Medienberichte, Organisationen bzw. Parteien darin
bestärkt, erstens eine Haltung zum sogenannten Nahost-Konflikt einzunehmen und
sich zweitens gegen Israel zu positionieren. Schon die Auffassung, dass Menschen in
Deutschland unbedingt eine Position zum Israel-Palästina-Konflikt einnehmen
müssten, sollten wir infrage stellen. Dass sie sich gegen Israel positionieren, dem
sollten wir in der Pädagogik gegen Antisemitismus auf jeden Fall entgegenwirken.

Unter manchen Schüler*innen mit Migrationsgeschichte kann es verständliche
Motive geben, warum sie zum „Nahost-Konflikt“ eine eindeutige Position einnehmen. Wenn sie oder ihre Familie aus dem Westjordanland oder dem Gaza-Streifen stammen, ist es nachvollziehbar, wenn sie Israel nicht wohlwollend betrachten. Wenn sie oder ihre Familie aus Israel kommen, ist es ebenfalls verständlich, wenn sie zum jüdischen Staat eine Affinität haben. Selbst Jüdinnen und Juden, die keine Israelis sind, fühlen sich von der in Deutschland weit verbreiteten Israel-Feindschaft mit gemeint. In Antisemitismus an Schulen in Deutschland zeichnet Julia Bernstein das Dilemma nach, in das sich jüdische Schulkinder wie auch jüdische Lehrkräfte nach eigener Aussage oftmals gedrängt fühlen: Sie werden „als Repräsentant*innen eines homogenisierten jüdisch-israelischen Kollektivs“ entweder als „Opfer“ in Bezug auf die Shoah oder als „Täter“ in Bezug auf Israel angesehen und entsprechend behandelt, gelten aber „nicht als ‚normal‘“ (Bernstein 2020: 479).
Bei Gruppen, in denen bereits eine Haltung zu Israel und Palästina besteht, sollten wir deswegen mit der Frage beginnen, warum den Teilnehmenden oder genereller
warum Menschen in Deutschland die Konflikte zwischen Israel und den arabischen
Staaten als wichtiger erscheinen als zum Beispiel der Konflikt zwischen der Türkei und den Kurd*innen oder die Lage von Afrikaner*innen auf ihrem Weg nach Europa.
Dabei sollte geklärt werden, warum das auch für Menschen gilt, die keine
biografische Bindung an Israel oder Palästina haben.
Im zweiten Schritt ist es wichtig, einem simplen Gut-Böse-Schema entgegenzuwirken. Die KIgA oder das Projekt „Islam, Islamismus & Demokratie“, das bis 2015 an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften bestand, haben Planspiele oder Filme entwickelt, die weniger bekannte oder auch ignorierte Fakten präsentieren, die einem Gut-Böse-Schema widersprechen. Zum Beispiel handeln die entwickelten Methoden von der antisemitischen Gewalt in arabischen Staaten vor und nach 1948, oder sie gehen auf die Flucht und Vertreibung von Jüdinnen*Juden aus arabischen Staaten nach 1948 ein. Ich habe mehrmals erfolgreich mit einem kurzen Zitat aus der Gründungscharta der Hamas gearbeitet, bei dem ich die Schüler*innen habe raten lassen, von wem es stammt. Da die Hamas darin von sich in der dritten Person spricht, ist auf den ersten Blick nicht klar, wer von ihr sagt, sie lehne jegliche „friedlichen Lösungen“ ab (Absatz 13, zitiert nach:
http://usahm.info/Dokumente/Hamasdeu.htm). In der Charta finden sich auch offen
antisemitische Passagen. Ich würde aber davon abraten, sie in der pädagogischen
Arbeit zu verwenden.
In der Arbeit an Schulen in Deutschland ist beim Thema Israel und Palästina vor allem zu berücksichtigen, dass Lehrkräfte ebenfalls eine einseitige Sicht auf Israel befördern können. Wenn sie dann junge ‚arabische‘ oder ‚türkische‘ Schüler*innen
unterrichten, die es kennen, ausgegrenzt zu werden und nicht wirklich
dazuzugehören, kann sich eine Dynamik entwickeln, die ich wiederholt an Hamburger Schulen wahrgenommen habe: Muslimische Jugendliche, die wissen, dass sie nicht zu den ‚Mehrheitsdeutschen‘ gehören, meinen, wenn sie sich israelfeindlich äußern, sprächen sie ja nur aus, was ‚die Deutschen‘ ebenfalls denken würden, sich aber wegen der Nazi-Vergangenheit nicht trauen würden auszusprechen.

Empfehlungen
Wollen wir in der pädagogischen Arbeit gegen Antisemitismus gezielt Menschen als
Migrant*innen oder Menschen mit Migrationsbiografie ansprechen, empfiehlt sich
ein Peer-to-peer-Ansatz, wie ihn die KIgA in Berlin oder die beiden ausgelaufenen
Hamburger Projekte „Islam, Islamismus & Demokratie“ oder „Neue Wege“ der
Türkischen Gemeinde gewählt haben. Es schafft Vertrauen, wenn zwischen
Teamenden und Teilnehmenden die Gemeinsamkeit besteht, dass ihre Identität
durch Migration geprägt ist oder dass sie als ‚migrantisch‘ wahrgenommen werden
und entsprechende Erfahrungen machen. Zwar lässt sich Vertrauen auch auf
anderem Weg gewinnen. Aber es dauert nach meinen Erfahrungen länger, wenn
Nicht-Migrant*in mit Migrant*innen in einen Austausch über etwas kommen wollen,
das mit ihrer Identität als ‚migrantisch‘ zu tun haben soll.
Eine grundsätzliche Unterscheidung von migrantischen und nichtmigrantischen
Workshop-Teilnehmenden ist für eine primärpräventive pädagogische Arbeit gegen
Antisemitismus ohnehin hinderlich. Falls einzelne Teilnehmende eine Affinität zu
judenfeindlichen Vorstellungen und Denkweisen offenbaren, können die Gründe
dafür sowohl in dem ‚migrantischen‘ als auch dem ‚nichtmigrantischen‘ Anteil ihrer
Identität liegen. Ob und inwiefern das der Fall ist, müssen wir versuchen in der
pädagogischen Praxis im Einzelfall zu klären.

Literatur

Theodor W. Adorno (2003): Schuld und Abwehr. Eine
qualitative Analyse zum Gruppenexperiment [1954], in: Ders.: Soziologische Schriften II. Band 2, Frankfurt am Main, S.
121–324.

Arnold, Sina (2023): Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und
Muslim*innen. Expertise des Mediendiensts Integration, Berlin.
https://mediendienst-integration.de/artikel/antisemitismus-unter-muslimen-und-menschen-mit-migrationshintergrund.html [8.7.2023].

Julia Bernstein (2020): Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen. Mit Online-Materialien, Weinheim.

Bildungsteam Berlin-Brandenburg e. V./Tacheles reden! e. V. (2008): Woher kommt der Judenhass? Was kann man dagegen tun. Ein
Bildungsprogramm, Mühlheim an der Ruhr.

Can, Mehmet (2012): Antisemitismus im Kontext von Ökonomiekritik. Eine Unterrichtseinheit der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, in: Gebhardt, Richard/Klein, Anne/Meier, Marcus (Hrsg.): Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit, Weinheim/Basel, S. 93–105.

Judith Coffey/Vivien Laumann (2021): Gojnormativität. Warum
wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin.

Rosa Fava (2015): Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der
Einwanderungsgesellschaft, Berlin.

Kistenmacher, Olaf (2021): Latente Formen des Antisemitismus in der Bildungsarbeit. Theoretische Zugänge und Handlungsstrategien, in: Marc
Grimm/Stefan Müller (Hg.): Bildung gegen Antisemitismus. Spannungsfelder der
Aufklärung, Frankfurt am Main, S. 167–181.

Moishe Postone (2005): Antisemitismus und Nationalsozialismus, aus dem
Amerikanischen von Dan Diner/Renate Schumacher, in: Ders.: Deutschland, die
Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg im Breisgau, S.
165–194.

 

Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International e. V. (2005, Hg.): „Unsere Opfer zählen nicht“. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin/Hamburg.

 

Ruangrupa, das künstlerische Team der documenta fifteen und einige der Kurator*innen des gescheiterten Forums (2022): Antisemitismus-Vorwurf
gegen Documenta: Wie ein Gerücht zum Skandal wurde
, in: Berliner Zeitung, 9. Mai 2022. www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/antisemitismus-vorwurf-gegen-documenta-wie-ein-geruecht-zum-skandal-wurde-li.226887 [3.7.2023].

Schäuble, Barbara / Scherr, Albert (2007): „Ich habe nichts gegen Juden, aber…“ Ausgangsbedingungen und Perspektiven gesellschaftspolitischer Bildungsarbeit, Berlin.

Zick, Andreas/Mokros, Nico (2023): Rechtsextreme
Einstellungen in der Mitte, in: Dies./Küpper, Beate (Hg.): Die distanzierte
Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland
2022/23, Bonn, S. 53–89.

 

Projekte

Islam, Islamismus und Demokratie, https://www.ufuq.de/qder-islam-ist-vielfaeltig positiv-und-selbstverstaendlichq-erfahrungen-mit-den-filmen-qislam-islamismus-und-demokratieq/

Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, www.kiga-berlin.org

Neue Wege – Präventionen von Antisemitismus der Türkischen Gemeinde Hamburg,
https://tghamburg.de/wp-content/uploads/2020/09/Brosch%C3%BCre-Projekt-Neue-Wege.pdf

Film

Khaet, Arkadij/Paatzsch, Mickey (2020): Masel Tov Cocktail