Islamisten und Nationalisten schüren seit längerem Rassismus und Antisemitismus in der Türkei, wobei sich die Positionen der beiden wichtigsten Parteien, die diese Strömungen repräsentieren – AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi) und MHP (Milliyetçi Hareket Partisi) und ihres Umfelds im Laufe der jahrelangen Koaltition immer stärker angenähert haben. Doch auch in anderen politischen Strömungen in der Türkei, in Massenmedien und in der Populärkultur ist der Antisemitismus weit verbreitet. Über Filme und Medien aus der Türkei, über das Internet sowie über türkische Organisationen hier erreichen diese antisemitischen Inhalte auch die Bundesrepublik und hier lebende Menschen.
Zuspitzung seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 zeigt sich der Antisemitismus in der Türkei in aller Offenheit:
– Bereits kurze Zeit nach dem Massaker verkündete ein Politiker der regierenden AKP im Stadtrat von Atakum an der Schwarzmeerküste Lobeshymnen auf Hitler: „Wenn die Welt von den Juden gereinigt sein wird, wird Frieden und Ruhe einkehren.“ (zitiert nach Diken, 18. Oktober 2023)
– Die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Şafak titelte am 8. Dezember 2023 mit der Schlagzeile: „Sie töten im Namen eines 3.000 Jahre alten perversen Glaubens – Die Welt muss dieses Virus [die Juden] auslöschen“ (3 bin yıllık şapkın inançla öldürüyorlar – Dünya bu virüsü yok etmeli).
– Zum Jahrestag des Massakers nahmen im Oktober 2024 in Diyarbakır Zehntausende an einer Demonstration der islamistischen Hüda Par[1] zur Unterstützung der Hamas teil.
Doch auch in demokratischen Medien, wie auf der linken Plattform Bianet, wurde das Massaker der Hamas mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verglichen. Der seit acht Jahren inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der prokurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi), Selahattin Demirtaş, postete nach der Tötung von Hamasführer Ismail Haniyya seine Beileidswünsche mit einem gemeinsamen Foto, und in einer großen Buchhandlung der Kette Penguin im liberalen Istanbuler Stadtteil Erenköy werden die antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion[2] in der Abteilung „Recherchen“ ausgestellt und angeboten.
In diesem Klima häufen sich seit Oktober 2023 Drohungen und Angriffe gegen Jüdinnen und Juden in der Türkei. Synagogen wurden mit Aufschriften ‚Mörder‘ (katil) oder blutroten Handabdrücken geschändet, Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde erhalten Drohschreiben, und mehrere islamistische Zeitungen fordern, türkischen Juden die Staatsangehörigkeit zu entziehen, mit der absurden Behauptung, sie seien ‚automatisch israelische Staatsbürger und damit Soldaten der israelischen Armee‘.
In keinem dieser Statements, ob von islamistischer, nationalistischer oder auch linker Seite, wird die Tatsache, dass die Hamas sowie die Hizbollah Israel bis heute angreifen und zahlreiche Israelis ermordet haben, überhaupt nur erwähnt. Jüdische/israelische Opfer werden systematisch verschwiegen. In vielen der Äußerungen zum Thema geht es nicht um konkrete Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen der israelischen Seite, die zu benennen legitim wäre, sondern Israelis = Zionisten = Juden wird unterstellt, sie töten aus reiner Mordlust. So behauptete der als Enthüllungsjournalist bekannte Nedim Şener, der 2011 wegen seinen Recherchen zur Verquickung der Gülen-Bewegung mit der AKP ein Jahr lang inhaftiert war, die Israelis würden aus religiösen Gründen Babys ermorden (Hürriyet, 28. August 2024). Schon während des kurzen Gaza-Krieges 2021 äußerte Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan in einer Fernsehansprache, den Israelis mache es „größtes Vergnügen“, Palästinenser zu töten. „Das ist Teil ihrer Natur […] sie sind nur zufrieden, wenn sie Blut saugen.“ (zitiert nach Al-Monitor, 19. Mai 2021)
Viele dieser Äußerungen, die klassisch antijüdische Topoi (Kindermord) benutzen und Vernichtungsphantasien offen aussprechen, zeigen, dass der israelisch-palästinensische Konflikt nur die Projektionsfläche für tiefer sitzenden Antisemitismus ist, der durch die Bilder aus Gaza getriggert wird. Der Hass richtet sich gegen Israelis als Juden. So haben die massiven Verbrechen der syrischen Armee unter Baschar al-Assad während des seit 2011 andauernden Bürgerkriegs, wie auch die Gewalttaten im Jemen oder im Sudan, niemals eine auch nur annähernd vergleichbare Empörung hervorgerufen, wie die israelische Kriegsführung in Gaza. Auch die angebliche Solidarität mit ‚den Palästinensern‘ kann bezweifelt werden: Arabische (syrische) Flüchtlinge in der Türkei sind immer wieder Zielscheibe rassistischer Angriffe; die Gewalt würde sich bei einer größeren Anwesenheit palästinensischer Flüchtlinge in der Türkei vermutlich auch gegen diese richten.
Allgegenwärtigkeit des Antisemitismus
Auch wenn sich der Antisemitismus im Zusammenhang mit dem Israel-Palästina-Konflikt besonders unverhohlen manifestiert, ist Antisemitismus in der Türkei schon seit langer Zeit weit verbreitet, und zwar keineswegs nur in islamistischen oder extrem-nationalistischen Kreisen, sondern im gesamten politischen Spektrum. So werden politische Gegner häufig als ‚Juden‘ oder ‚Marionetten Israels‘ diffamiert. Als sich im Frühsommer 2013 die Proteste gegen die Bebauung des Geziparks in Istanbul zu den landesweit größten Protesten gegen die AKP-Regierung ausweiteten, behauptete Regierungschef Erdoğan, hinter den Protesten stünde die internationale jüdische Lobby – eine Unterstellung, die dann in der Erdoğan-treuen Presse in zig Varianten wiederholt wurde. Die kritische Journalistin Amberin Zaman wurde aus dem Umfeld Erdoğans als „jüdische Hure“ (Yahudi oruspu) diffamiert, der seit sieben Jahren inhaftierte Philanthrop und Menschenrechtsaktivist Osman Kavala als ‚türkischer Soros‘ oder Befehlsempfänger des ‚Masterminds‘ bezeichnet, wobei der Begriff ‚Mastermind‘ (üst akıl) in der Türkei als Chiffre für das ‚internationale Judentum‘ gilt (s.u.).
Bemerkenswert ist, dass sich Angehörige antagonistischer politischer Lager gegenseitig als ‚Juden‘ diffamieren – allein dies unterstreicht die Verbreitung von Antisemitismus, da die Bezeichnung als ‚Jude / jüdisch‘ in der Türkei über alle politischen Differenzen hinweg als Beleidigung benutzt wird:
– So veröffentlichte Ergün Poyraz, ein säkularer, extrem nationalistischer Autor, in den 2000er Jahren mehrere Bücher, in denen er behauptete, führende Politiker der islami(sti)schen AKP seien jüdisch, darunter Erdoğan und seine Frau Emine, sowie Abdullah Gül und Bülent Arınç, die ebenfalls zu den Gründern der AKP gehörten. Die Partei sei im Auftrag und durch Mitwirken des ‚internationalen Judentums‘ gegründet worden.
– Seit dem Zerwürfnis zwischen dem (im Oktober 2024 verstorbenen) Gründer und Führer der Gülen-Bewegung, Fethullah Gülen, und Erdoğan und insbesondere seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016, für den Erdoğan Gülen verantwortlich macht, wird Gülen unterstellt, er sei jüdischer Abstammung und/oder würde im Dienst des internationalen Zionismus stehen. Entsprechende Behauptungen werden nicht nur in AKP-nahen Medien oder von Politikern der AKP selbst verbreitet, sondern fanden sich auch in der eher säkularen Tageszeitung Cumhuriyet. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass Gülen selbst in mehreren seiner Schriften eindeutig antisemitische Positionen vertritt und in den 1960er-Jahren Vorsitzender des antisemitischen ‚Vereins zur Bekämpfung des Kommunismus‘ (Komünizmle Mücadele Derneği) in Erzurum war.
– Auch die kurdische Nationalbewegung ist immer wieder Zielscheibe antisemitischer Angriffe: Sie sei ein verlängerter Arm Israels, der Vorsitzende der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) im Irak, Masud Barzani, sei angeblich Jude. Ihr Kampf diene nicht der kurdischen Sache, sondern der Schaffung eines Großisraels.
Während des Unabhängigkeitsreferendums in Irakisch-Kurdistan 2017 – Transparent in Istanbul: „Jüdisch-stämmiger Barzani – wir wissen, wer du bist und dass dein Ziel nicht Kurdistan, sondern das Große Israel ist. Eines Nachts kommen wir ohne Vorwarnung.“
Doch umgekehrt vertreten auch Vertreter verschiedener Strömungen der kurdischen Bewegung immer wieder offen antisemitische Positionen. Schon Ende der 1980er Jahre hatte der PKK-Vorsitzende Öcalan in einer Broschüre zur Frage der Religion das Judentum als „eines der Grundübel“ bezeichnet. Mitte der 90er Jahre machte die PKK-nahe Presse in einer Reihe antisemitischer Hetzartikel Juden für die repressive Kurdenpolitik der Türkei verantwortlich. Doch auch aktuellere Äußerungen sowie Stellungnahmen von Vertretern anderer kurdische Strömungen sind immer wieder antisemitisch gefärbt. (vgl. Maraşlı, 2023)
Juden als Verantwortliche für den Untergang des Osmanischen Reiches
Schon seit Gründung der Republik Türkei kursiert in konservativ-islamischen Kreisen eine Verschwörungserzählung, die Juden für den Untergang des Osmanischen Reiches verantwortlich macht. Diese Strömung betrachtet die Jungtürken, die 1908 den autokratisch regierenden Sultan Abdülhamid II. zur Wiedereinsetzung der Verfassung und 1909 schließlich zum Rücktritt zwangen sowie das Reich in den Ersten Weltkrieg führten, als ‚von Juden dominiert‘. Vergleichbare Anschuldigungen gegen Juden wurden aus reaktionären Kreisen in fast allen Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs erhoben; in Deutschland verbreitete sich etwa die bekannte ‚Dolchstoßlegende‘.
Für die Türkei kann Mevlânzâde Rıf’ats Schrift von 1923 ‚Wie haben die Zionisten das Osmanische Reich zerstört‘ (Siyonistler Osmanlı‘ yı nasıl Yıktı?) als Blaupause gelten. Das Pamphlet wurde 2013 von der AKP-nahen Zeitschrift Derin Tarih (‚Tiefe/verborgene Geschichte‘) neu aufgelegt und gratis verteilt. Das Narrativ von den finsteren Juden, die durch ihre Machenschaften das Osmanische Reich zu Fall gebracht hätten, findet sich in zahlreichen Ausprägungen der auf Linie der AKP produzierten Populärkultur. Ein Beispiel ist die TV-Serie Payitaht Abdülhamit, die von 2017 bis 2021 wöchentlich im Hauptprogramm des türkischen Fernsehens TRT 1 ausgestrahlt wurde. (vgl. Özdilek 2023)
Dabei ist zu betonen, dass sich auch die antisemitischen Erzählungen islamisch/islamistischer Kräfte vornehmlich auf ‚westliche‘ Verschwörungserzählungen stützen. Dies gilt für den fanatischen Antisemiten Necip Fazıl Kısakürek (ab 1977 prominenter Unterstützer der MHP), der in den 1940er-Jahren die Idee eines ‚islamischen großen Ostens‘ vertrat, der durch die Türkei begründet werden sollte, und der Juden ‚als inneren und äußeren Feind‘ betrachtete. Es gilt aber auch für Necmettin Erbakan, Begründer der Millî-Görüş-Bewegung, der die Europäische Gemeinschaft für eine ‚zionistische Erfindung‘ hielt, die gegründet worden sei, um die Türkei und den Islam zu schwächen. Beide gehören zu den Vordenkern des ‚islami(sti)schen Antisemitismus‘ in der Türkei, doch nährt sich ihr Antisemitismus aus Quellen wie den erwähnten Protokollen der Weisen von Zion oder – im Fall von Erbakan – auch aus den Schriften des US-amerikanischen Rechtsradikalen Gary Allen und kaum aus antijüdischen religiösen Texten des Islam.
Die Verbreitung von Verschwörungserzählungen und die Alltäglichkeit von Antisemitismus
Zwei Faktoren erleichtern die breite Akzeptanz antisemitischer Ideen in den verschiedenen politischen Lagern der Türkei. Dies ist zum einen die weite Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Denn auch der säkulare türkische Nationalismus, die Gründungsideologie der Türkei, grenzt sich zwar stark vom osmanischen Erbe ab, brachte aber selbst eine bis heute wirkmächtige Verschwörungserzählung auf. So ist die Türkei beispielsweise in Atatürks berühmter Rede (nutuk) von 1927 umzingelt von Feinden, die sich der Zuarbeit ‚innerer Feinde‘ bedienen. Kemalisten aber auch ein Großteil der Linken betrachteten die Türkei als ‚halbkolonisiert‘ und als ein ‚Opfer des Imperialismus‘. Das ist per se noch nicht antisemitisch, aber als Verschwörungserzählung dazu angelegt. Auch sind im rigiden Nationalismus der Kemalisten, der sich vor allem gegen alle nicht-türkischen/nicht-muslimischen Minderheiten richtete, die Grenzen zum Antisemitismus häufig fließend.
Hinzukommt, dass es in der jüngeren türkischen Geschichte eine Vielzahl offiziell unaufgeklärter Ereignisse gab. Während der 1990er-Jahre gab es Hunderte Mordtaten sogenannter ‚unbekannter Täter‘ (faili meçhul), insbesondere an demokratischen, linken und häufig kurdischen Politikern und Aktivisten. Obwohl bekannt ist, dass ein Großteil dieser Taten von Mafia/Faschisten und paramilitärischen Milizen, gedeckt von staatlichen Sicherheitskräften, verübt wurde, hat sich auch in der demokratischen Opposition der Türkei der Begriff des ‚tiefen Staates‘ (derin devlet) etabliert. Dieser Begriff gehört ideologisch zum Arsenal der amerikanischen Rechten und suggeriert, es gäbe eine höhere, verborgene Instanz, obwohl doch einleuchtend ist, dass staatlicherseits keinerlei Interesse an einer Aufklärung der mafiösen Strukturen und der Verbrechen parastaatlicher Killereinheiten besteht. Auch wenn die Auffassung des ‚tiefen Staates‘ nicht grundsätzlich antisemitisch ist, ebnet sie den Weg dorthin. So behaupteten Linke aus dem Umfeld der Halk-Evleri 2008 in ihrer Zeitschrift, der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink (im Januar 2007) sei von Marionetten der USA verübt worden. Und der ehemalige Leiter des Geheimdienstes MIT, Prof. Mahir Kaynak, wurde zum beliebten Interviewpartner säkularer Nationalisten und selbst als demokratisch angesehener Zeitungen. Dabei sind seine Äußerungen eindeutig: „Die CIA führt die ‚Al-Qaida‘-Operationen durch […] CIA-Mitarbeiter wurden auf Selbstmordmissionen geschickt, um ihre eigenen Zwillingstürme anzugreifen […] Soros, Rothschild [und] Rockefeller sind Vertreter des globalen Kapitals. Sie haben eine Macht, die die der Regierungen übersteigt.“ (Radikal 1. August 2005).
Zum zweiten hat der gesellschaftliche Umbau unter der nun mehr als zwanzig Jahre regierenden AKP dazu geführt, dass antisemitische Positionen als ‚alltäglich‘ wahrgenommen werden. Staatspräsident Erdoğan war seit seiner Gymnasialzeit Mitglied und später auch Vorsitzender von Jugendorganisationen der Millî Görüş und hat aus seiner antisemitischen Überzeugung nie einen Hehl gemacht. So beginnt der 2015 produzierte Film Üst Akıl (Mastermind) mit einer Rede Erdoğans über die Verschwörungen, die die Türkei bedrohen. „Hinter all diesem Maßnahmen steckt ein Mastermind, […] Ihr wisst, wer dahintersteckt, aber ihr sollt es herausfinden und recherchieren.“ Der auf dem regierungsnahen Kanal A-Haber ausgestrahlte Film wird als ‚Dokumentarfilm‘ bezeichnet und interviewt diverse türkische ‚Wissenschaftler‘, mit deren Aussagen dreitausend Jahre Weltgeschichte als eine Abfolge jüdischer Intrigen präsentiert wird. (Üst akıl belgeseli). Auch bemühen sich Erdoğan und seine AKP-Regierung seit einigen Jahren, den bekennenden Antisemiten Necip Fazıl Kısakürek zum Nationaldichter aufzubauen: Zu dessen Todestag werden Gedenkveranstaltungen unter Teilnahme von Ministern und Führungskadern der AKP abgehalten. Seit 2014 verleiht das Kulturministerium jährlich in einer aufwendigen Veranstaltung in mehreren Literatursparten die Necip-Fazıl-Preise, die häufig von Präsident Erdoğan persönlich überreicht werden. Und im Istanbuler Stadtteil Maltepe wurde im Jahre 2022 ein Park nach dem nationalistischen Vordenker der MHP, Nihal Atsız, benannt, der im Vermächtnis an seinen Sohn die Juden „als heimlichen Feind aller Völker“ bezeichnet hatte.
Kaum Opposition gegen Antisemitismus
Verbreiteter Antisemitismus ist sicher kein spezifisches Problem der Türkei, sondern gilt für zahlreiche Länder, ob christlich, muslimisch oder säkular geprägt. Doch leider gibt es in der Türkei kaum ein Bewusstsein zu diesem Thema. Wissenschaftliche Werke oder Enzyklopädien, die rechte oder islamische/islamistische Ideologien oder Organisationen untersuchen, enthalten häufig im Index nicht einmal das Schlagwort Antisemitismus, weil es als Problem oder Phänomen nur von den wenigsten wahrgenommen wird.
Selbst Anschläge oder Drohungen gegen Mitglieder, Repräsentanten oder Einrichtungen der jüdischen Gemeinde rufen keine Solidarität hervor – außer der eines sehr kleinen engen Kreises, wie etwa der ‚Kommission gegen Diskriminierung und Rassismus‘ (Irkçılığa ve Ayrımcılığa Karşı Komisyon) des Menschrechtsvereins IHD. Dabei gibt es seit rund zwanzig Jahren in Teilen der demokratischen Opposition in der Türkei durchaus ein gestiegenes Bewusstsein gegen Rassismus und Ausgrenzung. Die Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten und Aktivisten Hrant Dink im Januar 2007 trieb 100.000 Menschen auf die Straße, doch bei Anschlägen gegen jüdische Menschen oder Einrichtungen der Gemeinde ist es noch nie zu einer vergleichbaren Solidarität gekommen. Verschiedene Gruppen und Onlinezeitungen führen regelmäßig ein Monitoring gegen Hate-Speech und Diskriminierungen durch, doch in den wenigsten daraus hervorgegangenen Publikationen wird Antisemitismus oder Hate Speech gegen Juden zur Kenntnis genommen. Die oben erwähnten Hetzartikel, die offen zur Gewalt gegen Juden aufrufen, wären nach geltenden Gesetzen strafbar und müssten die Strafverfolgungsbehörden, aber auch den Presserat und weitere Organe auf den Plan rufen, was aber nie geschieht.
Auch in Deutschland finden antisemitische Inhalte aus der Türkei Verbreitung
Dass antisemitische Diskurse auch ihren Weg aus der Türkei nach Deutschland finden, lässt sich etwa anhand des Theaterstücks „Son Kale Türkiye“ nachvollziehen, in dem das antisemitische Motiv der jüdischen Weltverschwörung bedient wird. In diesem planen drei Amerikaner (zwei davon mit jüdischem Namen) die Zerschlagung der Türkei und gründen zu diesem Zweck etwa den IS (Islamischer Staat). Auf der Deutschlandtournee im Jahr 2017 sollte das Stück für Vereine der Grauen Wölfe und Millî Görüş aber auch DITIB-Moscheen aufgeführt werden. Einige der geplanten Termine wurden nach kritischer Berichterstattung abgesagt.
2023 wiederum geriet der AKP-nahen Lobbyverein UID (Union Internationaler Demokraten) in die Kritik. Dieser wollte kurz nach dem 07. Oktober 2023 eine Veranstaltung mit dem türkischen Influencer Abdurrahman Uzun in Frankfurt durchführen, welcher sich selbst als ‚Feind Israels und der Juden‘ bezeichnet hatte. Erst nach medialer Berichterstattung und öffentlichem Protest wurde die Veranstaltung abgesagt (vgl. Pehlivan 2023).
Quellen:
Al-Monitor, 19. Mai 2021, https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/us-condemns-erdogan-remarks-toward-israel-anti-semitic (15.10.2024)
Diken, 18. Oktober 2023: „AKP’li meclis üyesi Hitler’i ‘rahmetle andı’, CHP’li belediye başkanı ‘normal’ buldu“. https://www.diken.com.tr/akpli-meclis-uyesi-hitleri-rahmetle-andi-chpli-belediye-baskani-normal-buldu/ (15.10.2024)
Hürriyet, 28. August 2024: Nedim Şener: „Siyonizmin katliamcı temelleri… Öldürmek için bebek aramak din midir“.
Pehlivan, Erkan: „Erdogans Lobbyverein UID muss Veranstaltung mit Antisemiten absagen“, Frankfurter Rundschau, 02.11.2023.
Radikal, 1. August 2005: Interview Neşe Düzel mit Mahir Kaynak.
Üst Akıl Belgeseli : https://www.youtube.com/watch?v=PD1Z9PBoO8I. (15.10.2024)
Yeni Şafak, 8. Dezember 2023: „3bin yıllık şapkın inançla öldürüyorlar -Dünya bu virüsü yok etmeli“
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Corry Guttstadt, Sonja Galler: Antisemitismus in und aus der Türkei. Hamburg, 2023.
Insbesondere die Aufsätze
– Recep Maraşlı: „Antisemitismus und die kurdischen Nationalbewegungen“ (253-277).
– Aysel Özdilek: „Antisemitismus zur Primetime: Die Serie Payitaht Abdülhamid“ (373-393).
[1] Die Hüda Par ist 2012 aus der illegalen Organisation der kurdischen Hizbullah hervorgegangen (keine Verbindung zur libanesischen Hizbollah), die in den 1990er und 2000er Jahren, gedeckt von türkischen Sicherheitskräften, für Hunderte Morde an kurdischen Politikern und Aktivisten verantwortlich war. Bei den Parlamentswahlen 2023 gelangten vier Angehörige der Hüda Par auf der Liste des Regierungsbündnisses ins türkische Parlament.
[2] Die Protokolle der Weisen von Zion sind ein antisemitisches Pamphlet, das angeblich Pläne einer jüdischen Weltverschwörung aufdeckt. Die Schrift, die Anfang des 20. Jahrhunderts zuerst in Russland erschien, wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts in zahlreiche Sprachen übersetzt und weltweit verbreitet. Es ist eine der einflussreichsten Schriften antisemitischen Verschwörungsdenkens .
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